- Olympische Spiele der Neuzeit
- Olympische Spiele der NeuzeitIm Jahre 1896 in Athen neu begründet, sind die Olympischen Spiele der Neuzeit zu einem ebenso erfolgreichen wie ambivalenten Großereignis geworden. Ihre kultische und propagandistische Idealisierung des Körpers hat im 20. Jahrhundert eine wachsende Anhängerschaft an Zuschauern und Freizeitsportlern gewonnen. Ihr Erfolg ist in engem Zusammenhang mehrerer großer Tendenzen zustande gekommen: der wachsenden Freizeit, der zunehmenden Wichtigkeit des Körperlichen in modernen Gesellschaften, die sich in der Verbreitung des Sports ausdrückt, der ungeheuren Bedeutung der Bildmedien, der Entstehung eines neuen Unterhaltungssektors und nicht zuletzt des Wunsches, am Leben von Vorbildern teilzuhaben.Dass es moderne Olympische Spiele gibt, ist das Werk Pierre de Coubertins. Seine große Erfindung ist eine multimediale Ästhetik, in deren Mittelpunkt der menschliche Körper steht: Jeder Athlet repräsentiert bei den Olympischen Spielen seine Nation und seine eigene Person. Sport ist in diesem Entwurf zum einen nationale Repräsentation, zum anderen zweckfreie Tätigkeit. Die Spannung von hemmungslosem Nationalismus und egozentrischer Selbstdarstellung wird die ganze Geschichte der modernen Spiele durchziehen. In Coubertins Entwurf ist ihre Dynamik noch dadurch gebremst, dass die sportliche Tätigkeit zu den schönen Dingen des Bürgers gehört und sowohl von der Politik als auch von der Notwendigkeit des Geldverdienens abgekoppelt werden soll. Der sportliche Lebensstil wird als ästhetisierter Ausdruck von unternehmerischen Fähigkeiten entworfen: Ohne die Hilfe anderer, aus eigener Kraft und dank privater Initiative, macht der Athlet etwas aus sich und wird fähig, sich selbst und die anderen zu beherrschen.Mit seinem Entwurf eines Großereignisses erhob Coubertin die Olympischen Spiele in den Rang einer Religion der Starken und des Körpers. Alle großen Sportveranstaltungen übernahmen in der Folgezeit seine Konzeption der Ritualisierung, die sich in Zeremonien, inszenierten Ereignissen, in liturgischen Elementen, diffusen Botschaften, schließlich in der Erzeugung erhabener Gefühle und von Gemeinschaftserlebnissen ausdrückt. Mit Eröffnungs- und Schlussritualen wird eine symbolische Klammer geschaffen; ihr Prinzip ist die Entrückung aus der Alltagswelt, die alle religiösen Praktiken auszeichnet.Nach dem Ersten Weltkrieg war die Verbindlichkeit des bürgerlichen Lebensentwurfs erloschen; die Olympischen Spiele verloren ihre Bindungen an eine Ästhetik der Existenz, aber nicht ihre repräsentative Kraft. Die Darstellung von Nationalismus und Individualismus im Sport wurde bis in die Gegenwart ständig gesteigert, von der Politik genutzt und von der ganzen Gesellschaft anerkannt. Sportliche Bilder und Metaphern prägen heute die Wahrnehmung und sogar die Bewertung vieler sozialer Prozesse. In der Zeit des Kalten Kriegs wurden die Olympischen Spiele zur Bühne eines symbolischen Kräftemessens zwischen sozialistischen und kapitalistischen Staaten. Bis heute haben sie diesen szenischen Charakter beibehalten, freilich nicht mehr im Sinne einer Ost-West-Konfrontation, sondern als Ausdruck zentraler Werte der weltweiten Gegenwartsgesellschaft.Sportliche Wettkämpfe haben eine realistische Darstellungsbeziehung zum Alltag, insbesondere zu den Werten der Technik und Arbeitswelt. Sie zeigen perfekt funktionierende Athletenkörper. Jede Bewegung verläuft reibungslos, störungsfrei, gleichmäßig - sie steht unter dem Kommando des Willens. Ohne die Qualität des Menschseins aufzugeben, zeigt der Athlet die wunderbaren Ideale der Technik. Er ist ja selbst keine Maschine, sondern ein ausdrucksfähiges Subjekt, das seine Emotionen geradezu exzessiv vorzeigt: im Siegestaumel, im Leiden, in der Überlegenheit und im Jammer der Niederlage. Diese grundlegende Umgestaltung des Sports von einem edlen Vergnügen der Bürgerelite zu einem der ganzen Welt dargebotenen Schauspiel hat zwei Ursachen, die sich erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts voll auswirkten: die unbegrenzte Dynamik des Rekords und die gestalterische Beteiligung des Fernsehens.Ermöglicht wird der Rekord durch ein Handlungssystem mit der Struktur des Komparativs: »schneller, höher, weiter«. In diesem Handlungssystem wird das Wunder des Durchbrechens der Limits, das Eindringen in das bis dahin für unmöglich Gehaltene erwartet. Der Realismus des Sports, seine Bindungen an Technik und Alltagswelt, wird nicht aufgelöst, sondern ins Magische erhöht. Mit dem Rekord wird der Athlet aus seiner banalen Alltagsexistenz hinauskatapultiert und seine Person verzaubert; er selbst wird zum Helden einer Legende.Wie der Heilige ist der Sportheld überall und nirgends; er ist vor allem in der Einbildungskraft präsent. Er hat eine physische Existenz, aber seine reale Gestalt und seine Leistungen werden in Bilder transformiert. Seine Bewegungen werden zu Gesten, seine Körperhaltungen zu Ikonen der Macht und Überlegenheit. Was bei den Heiligen das prachtvolle Gewand ist, ist bei dem Sportler die Außenhaut des Körpers, die die Muskeln sichtbar macht, eine Art kultischer Verhüllung. Sein Blick ist nicht gerichtet, er wendet sich an niemanden - so kann ihn jeder Zuschauer auf sich gerichtet sehen. Es ist nur eine kleine Zahl von Ausdrucksgesten, die im Sport auftreten, wie die Bewegungen der Hände, der Augen und des Mundes, andere haben keine Bedeutung.Im Sport gibt es ein ganzes Glaubenssystem, das von den Medien, den Athleten und dem Publikum in Gang gehalten wird. Zwischen den Athleten und den Bewunderern entwickelt sich ein Gabentausch: Die Athleten schenken Hingabe und Aufopferung, die Bewunderer erwidern die Gabe durch emotionale Beteiligung, Verehrung und Fanatismus. Beide Seiten glauben an die Realität des Gabentauschs. Mit seinen Anfeuerungen treibt das Publikum in den Stadien die Athleten zu immer neuen Höchstleistungen voran; es sichert sich seinen Anteil an Rekord und Spektakel. Beifall und Jubel sind mehr noch als Unterstützung; sie sind Ausdruck eines für den Moment unerschütterlichen Glaubens an die Person des Athleten. Sie drücken die Beglaubigung des Siegers aus: Sein Bild ist Wirklichkeit, es gibt ihn wirklich. Mit dieser Existenzgarantie werden die Zweifel der Athleten an ihrer eigenen Wirklichkeit verdrängt. Die Helden werden von ihrem Bild abhängig und streben danach, ihm so ähnlich wie möglich zu werden.Über den Beifall hinaus gibt es auch eine Fülle vermittelter Beteiligungsakte. Die Bewunderer verfolgen ihren Sportstar durch möglichst alle Fernsehkanäle und Zeitschriften, sie schreiben ihm, sammeln seine Bilder, tragen ein Hemd mit seinem Namen, haben sein Poster zu Hause an der Wand und sein Abbild auf ihrem Kopfkissen. Scheinbar unbegrenzt ihren Fans zur intimen Lebensgestaltung ausgeliefert, geben die Sportler nichts als ihre Oberfläche preis. Während erfahrene Athleten ihr Privatleben sorgfältig abschirmen, weil sie die Gefräßigkeit der maßlosen Bewunderung fürchten, liefern sich junge Sportler mit Haut und Haaren aus und machen sich vollkommen zu öffentlichen Personen - mit dem Ergebnis, dass sie selbst nur noch Oberfläche und nicht mehr als ein Bild von sich sind. Im Gabentausch zwischen Athleten und Publikum gibt es einen Aspekt des Machtkampfs. Angeführt von spezialisierten Journalisten, kämpfen die Bewunderer um die Teilhabe an der Ikone, während die Athleten einen Teil ihrer Persönlichkeit dem Bild zu entziehen trachten. Eine Bildverweigerung von ihrer Seite bringt sie in eine gefährliche Situation: Sie könnten die Erfahrung machen, dass sie ohne das Bild nichts mehr sind.Die großen Spektakel des Sports wie die Olympischen Spiele zeigen, was die Gesellschaft der Gegenwart eint: der Glaube an einzigartige Personen, große Taten und die Macht der Gefühle. Sie erzeugen einen Zusammenhang, der weitgehend über die Einbildungskraft funktioniert, aber immer wieder in Ereignissen und unter Beteiligung vieler Menschen materielle Realität gewinnt.Prof. Dr. Gunter Gebauer
Universal-Lexikon. 2012.